Am 1. Juli hat Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernommen, verbunden mit vielen Hoffnungen. Doch die COVID-19-Pandemie hat die Planungen der Bundesregierung durcheinandergeworfen. Neben der Bekämpfung der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen müssen weitere wichtige Entscheidungen noch in diesem Jahr getroffen werden.

Die offiziellen Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft sind eher zeremonieller Natur: Organisation und Vorsitz der Ratssitzungen, Vermittlung der unterschiedlichen Positionen, um einen Kompromiss zu erreichen, und die Repräsentation des Ministerrats nach innen und außen. Aber gerade wenn große Mitgliedstaaten während einer Krise die Führung übernehmen, wachsen die Hoffnungen auf neue Impulse.

Dabei sind die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft groß, die Liste der Aufgaben ist lang. Internationale Konflikte fordern die Aufmerksamkeit und eine Reaktion der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Die EU muss ihre immer wichtiger werdende Rolle als globaler Akteur aktiver ausfüllen, um dem raueren Ton in den internationalen Beziehungen zu begegnen und multilaterale Kooperationen zu stärken. Doch nicht nur international, auch intern sieht sich die EU wachsenden Problemen gegenüber. Die EU-Skepsis der Bürgerinnen und Bürger ist weiterhin ein großes Problem, gerade hinsichtlich der aktuellen Krise Europas. Deshalb ist es gut und wichtig, dass mit Deutschland ein wichtiges und fähiges Mitgliedsland die Ratspräsidentschaft übernimmt und die Europäische Union hoffentlich wieder auf den richtigen Weg bringt.

So könnte man die Ausgangslage der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 knapp analysieren. Beschrieben wurde damit aber die Situation der Europäischen Union 2007, als Deutschland das letzte Mal den Vorsitz im Rat übernommen hat. Es zeigt zum einen, dass von Deutschland schon immer viel erwartet wurde und zum anderen, dass gewisse Probleme auch nach 13 Jahren nicht gelöst werden konnten.

Als CDU/CSU und SPD im März 2018 ihren Koalitionsvertrag vorstellten, gaben sie ihm den Titel „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Auch der Text sprach eine klar europäische Sprache, und vielleicht hatten seine Autorinnen und Autoren dabei schon die Ratspräsidentschaft im Blick. Denn zumindest in den Ministerien hat unmittelbar danach die Arbeit an der Agenda begonnen. Geplant war, den European Green Deal als zentralen Referenzpunkt im Programm der Bundesregierung zu verankern. Am Ende führte die COVID-19-Pandemie dazu, dass viele Vorhaben wieder eingestampft wurden, das Programm neu ausgerichtet werden musste und die Klima-Anstrengungen als Nebenstrang etabliert wurden.

COVID-19 – der Mittelpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft(?)

Nun hat die Bundesregierung eben jene Pandemie zum Mittelpunkt ihres Programms gemacht: „Das Virus muss eingedämmt, die europäische Wirtschaft wieder aufgebaut und der soziale Zusammenhalt in Europa gestärkt werden“. Um die Interessen der Europäischen Union international verteidigen und um ihre Verantwortung in der Welt wahrnehmen zu können, wurden sechs Leitgedanken formuliert, die die Europäische Union in den kommenden sechs Monaten und darüber hinaus leiten sollen:

  • die dauerhafte Überwindung der COVID-19-Pandemie und die wirtschaftliche Erholung
  • ein stärkeres und innovativeres Europa
  • ein gerechteres Europa
  • ein nachhaltiges Europa
  • ein Europa der Sicherheit und der gemeinsamen Werte
  • ein starkes Europa in der Welt.

Die politische Wirklichkeit könnte eine andere sein. Denn die noch immer ambitionierten Pläne können zunächst nur die Kirsche auf der Torte der Herausforderungen sein, denen sich die EU und die Ratspräsidentschaft gegenübersehen. Im Fokus stehen zunächst mit der Überwindung der COVID-19-Pandemie inklusive milliardenschwerem Aufbaufonds, der noch immer ausstehenden Einigung zum Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und dem Handelsabkommen und damit der endgültigen Loslösung des Vereinigten Königreichs drei Projekte, die die volle Aufmerksamkeit aller Beteiligten benötigen. Idealerweise lassen sich die beiden ersten Punkte mit innovativen Vorstellungen kombinieren. Ziel könnte es z.B. sein, Umweltschutz- und Klimaaspekte sehr viel stärker als bisher zur Voraussetzung von Förder- und Hilfsgeldern zu machen. Eine andere Möglichkeit wäre die gezieltere Förderung von Zukunftstechnologien in unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen. Ob die Kompromisse zwischen den 27 EU-Staaten und den Institutionen am Ende in die Zukunft oder doch eher in die Vergangenheit weisen, hängt aber auch von der Verhandlungsführung des Ratsvorsitzes ab.

Die erste Priorität gilt dem Corona-Aufbaufonds

Zunächst gilt es, den Aufbaufonds für die Corona-geplagten Volkswirtschaften Europas auf den Weg zu bringen. Hier müssen die Interessen von vor allem drei Gruppen miteinander in Einklang gebracht werden. Die „Sparsamen Vier“ (Dänemark, Niederlande, Österreich, Schweden) lehnen hohe Zuschüsse ab und wollen sich höchstens auf Kredite einlassen. Dem gegenüber stehen die Befürworterinnen und Befürworter gemeinschaftlicher Schulden vor allem aus dem Süden Europas. Schließlich treten die mittelosteuropäischen Staaten mit einem eigenen Forderungskatalog an, um bei der Verteilung der Milliarden nicht zu kurz kommen und gleichzeitig Souveränitätseinschränkungen mit allen Mitteln zu verhindern. Die Abkehr Deutschlands von einem strikten „Nein“ zu gemeinschaftlichen Verbindlichkeiten hin zu einer – zeitlich und inhaltlich begrenzten – Möglichkeit der Europäischen Kommission zur Aufnahme von Schulden, wurde vor allem international als Zeitenwende interpretiert.

Doch nicht nur die Frage, in welcher Form der Aufbaufonds finanziert werden soll, ist ein Streitpunkt, der unmittelbar angegangen werden muss. Auch die Forderungen für welche Wirtschaftsbereiche und Projekte die Gelder eingesetzt werden dürfen sind in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft höchst unterschiedlich. Während auf der einen Seite die Europäische Kommission und die deutsche Ratspräsidentschaft offensiv dazu aufgefordert werden, ihren Worten zur Unterstützung des European Green Deal und einer nachhaltigen Erneuerung Europas Taten folgen zu lassen, wird auf der anderen Seite ein klarer Fokus auf wirtschaftliche Gesichtspunkte eingefordert. Bereits hier entscheidet sich, ob die deutsche Ratspräsidentschaft dazu in der Lage ist, die zukunftsträchtige Alternative zu vermitteln, die sich an Klimaschutz und innovativen Technologien orientiert und die sie auch in ihrem Programm prominent darstellt, oder ob der Blick doch wieder in Richtung Erhaltung althergebrachter Wege geht.

Unmittelbar verwoben mit der Entscheidung zum Aufbaufonds ist die Einigung zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen, der das Budget der Europäischen Union zwischen 2021 und 2027 leiten soll. Ziel war es eigentlich, die neue Vereinbarung noch vor den letzten Europawahlen auszuhandeln. Hiervon war man meilenweit entfernt, sodass eine Einigung nun in letzter Minute erzielt werden muss. Auch hier geht es darum, unterschiedlichste Interessen und Finanzierungswünsche der Mitgliedstaaten, der Kommission und des Europäischen Parlaments unter einen Hut zu bringen. Das alles unter der Voraussetzung, dass mit dem Vereinigten Königreich einer der größten Nettozahler nicht mehr zum Budget beiträgt und sich viele Regierungen mehr als zieren, ihren Beitrag zu erhöhen. In beiden Fällen drängt die Zeit, damit getroffene Entscheidungen noch rechtzeitig in die Tat umgesetzt werden können. Ziel der Bundesregierung ist es, noch im Juli – vor der Sommerpause – mindestens eine Einigung zwischen den 27 EU-Staaten zu erzielen, wenn nicht sogar schon die Abstimmung mit den EU-Institutionen abzuschließen. Denn je länger die Entscheidungen auf sich warten lassen, desto später können Hilfen ausgezahlt werden und desto unsicherer wird eine tragfähige Finanzierung für die kommenden Jahre.

Brexit-Verhandlungen als zentraler Stolperstein

Das Endlosdrama Brexit stellt die dritte große Herausforderung für die deutsche Ratspräsidentschaft dar. London möchte unter keinen Umständen die Übergangsfrist über den 31. Dezember 2020 hinaus verlängern und droht – wie schon seit Jahren – mit einem harten Brexit, sollte es zu keiner Einigung auf einen Handelsvertrag kommen. Eigentlich sollte diese bereits im Juni stehen, jetzt hat die britische Regierung September als letzte Möglichkeit ausgegeben. Die Zeit wird also auch hier knapp und die Verhandlungsdauer bereits bestehender Handelsabkommen lässt keinen allzu großen Optimismus zu. Aber die Hoffnung des Vereinigten Königreichs ist immer noch, dass Brüssel mit zunehmendem Druck zentrale Standpunkte aufgibt. Zumindest aktuell scheint es aber so, dass die Verhandlungsgruppe um Michel Barnier auf die bereits ausgehandelten Eckpunkte insistiert, wissend, dass ein no deal-Brexit für das Vereinigte Königreich voraussichtlich folgenreicher sein wird als für die Europäische Union.

Die britische Regierung sowie die Brexit-Unterhändlerinnen und -Unterhändler bauen in ihrer Hoffnung auch auf die deutsche Bundesregierung und insbesondere die Kanzlerin. Mit ihrem Ruf, wenn es hart auf hart kommt, pragmatische Lösungen anzustreben, anstatt auf vorher festgelegten Standpunkten zu beharren, sehen sie in Angela Merkel diejenige Regierungschefin, die den Rest Europas auf einen London-freundlicheren Kurs einschwören kann. Doch selbst wichtige Profiteure eines engen Verhältnisses zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union setzen aktuell eher auf den Zusammenhalt der EU-27 statt auf den Ausverkauf des Binnenmarktes.

Ist die Pflicht in Form dieser drei Großbaustellen erfüllt, kann an der Kür des Ratsvorsitzes, formuliert in den bereits angesprochenen sechs Leitgedanken, gearbeitet werden, die in den kommenden Absätzen näher betrachtet werden. Diese Zukunftsvisionen sind im Programm der deutschen Ratspräsidentschaft eindeutig an der Überwindung der COVID-19-Pandemie ausgerichtet. Diese wurde von Angela Merkel in ihrer letzten Regierungserklärung als die größte Herausforderung in der Geschichte der EU bezeichnet, auch weil sie alle Staaten gleichermaßen unverschuldet getroffen habe. Dementsprechend steht die Europäische Union für die nächsten sechs Monate unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, also dem kooperativ angelegten Pendant zu „Make America Great Again“. Es soll zeigen, dass europäische Solidarität auch in schwierigen Zeiten möglich und wichtig ist.

Die Wunschliste der Ratspräsidentschaft ist lang und ambitioniert

Zur dauerhaften Überwindung der COVID-19-Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung ist es das Ziel der Bundesregierung, die Gesellschaften, Gesundheits- und Wirtschaftssysteme der Mitgliedstaaten resilienter gegen Pandemien zu machen. In Zukunft müsse man schneller und entschlossener gemeinsam reagieren können. Die Pandemie könne dabei auch eine Chance zur Erreichung eines stärkeren und innovativeren Europa darstellen. Dabei setzt die Ratspräsidentschaft darauf, dass die bereits getroffenen sowie die geplanten Maßnahmen die Transformation der Europäischen Union in Richtung Zukunft voranbringen. Das Programm spricht davon, dass „Europa […] digital souverän werden [muss], um auch zukünftig aus eigener Kraft handlungsfähig zu bleiben“. Schwerpunkte sollen dabei unter anderem die Entwicklung künstlicher Intelligenz oder Quantentechnologien sein.

Doch Europa soll auch gerechter werden. Dabei geht die Bundesregierung davon aus, dass die COVID-19-Pandemie die Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Staaten der Europäischen Union verschärft hat. Bewältigen möchte sie diese Herausforderung unter anderem durch die Entwicklung eines EU-Rahmens für nationale Mindestlöhne. Weiterhin stellt das Papier klar, dass der Weg nach vorne gehen müsse. Für ein nachhaltiges Europa setzt die Bundesregierung auf eine ambitionierte Klima-, Umwelt- und Biodiversitätsschutzpolitik. Sie möchte außerdem den European Green Deal unterstützen und begrüßt den Plan der Kommission, das Pariser Klimaabkommen zu stärken, indem der nationale Klimabeitrag der Europäischen Union für das Jahr 2030 auf 50-55% erhöht und für 2050 die Klimaneutralität der EU angestrebt werden soll.

Hinsichtlich eines Europa der Sicherheit und der gemeinsamen Werte werden unterschiedlichste Projekte angesprochen. Hierunter fallen die geplanten Bemühungen der Ratspräsidentschaft, das Gemeinsame Europäische Asylsystem grundständig zu reformieren, aber auch ein Rechtsstaatsdialog innerhalb der Europäischen Union. In Aussprachen soll die rechtsstaatliche Situation in allen Mitgliedstaaten thematisiert und Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Dieses letztgenannte Vorhaben hat die deutsche Ratspräsidentschaft in ihrem Programm ausgesprochen vorsichtig formuliert. Die Hauptadressaten in Sachen Rechtsstaatlichkeit sind sicherlich die Sorgenkinder Polen und Ungarn. Doch über die Versicherung, dass sich alle Mitgliedstaaten dieser Überprüfung stellen sollen, nimmt die Bundesregierung etwas Explosivität aus ihrem Vorschlag. Alleine diese beiden Programmpunkte gleichen aber schon einer mission impossible im fünften Leitgedanken der deutschen Ratspräsidentschaft. Die Interessen der EU-27 liegen in beiden Bereichen derart weit auseinander, dass hinsichtlich einer schnellen Einigung nur wenig Hoffnung bestehen kann – besonders, wenn man die verhärteten Fronten bedenkt, die sich durch die Diskussionen der letzten Jahre entwickelt haben.

Die globale Rolle der EU muss gestärkt werden

Schließlich wird auch im Bereich ein starkes Europa in der Welt ein ambitioniertes Programm entwickelt, das in seiner Umsetzung eng mit dem Hohen Vertreter Josep Borrell abgestimmt werden soll. Übergeordnetes Ziel ist es, der globalen Rolle der EU besser gerecht werden zu können, ohne dabei die wichtigen Partnerschaften zu vernachlässigen. So sollen die Beziehungen zu den Staaten des westlichen Balkans mit ihrer Beitrittsperspektive verbessert werden, die östliche Nachbarschaft gestärkt und die afrikanischen Staaten unter anderem bei der Bewältigung der COVID-19-Pandemie unterstützt werden. Zudem soll über die Europäisch-Afrikanische Agenda weiterhin an den bekannten Themen Frieden, Sicherheit, Good Governance, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Migration gearbeitet werden. Gleichzeitig ist es das Ziel der Bundesregierung, die Beziehung zu den USA als engstem, aber immer komplizierter werdendem außen- und sicherheitspolitischen Partner zu gestalten und an einer umfassenden Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich festzuhalten.

Auch die Beziehungen zu China stellen einen wichtigen Pfeiler der deutschen Pläne für das zweite Halbjahr 2020 dar. Nachdem der EU-China-Gipfel, der für September in Leipzig geplant war, pandemiebedingt nicht stattfinden kann, sucht man nach Alternativen, um die Verhandlungen mit dem wichtigen, aber schwierigen Partner doch noch voranzubringen. Die Crux ist dabei, dass die 27 Mitgliedstaaten mal mehr mal weniger an einer engeren, aufgeschlosseneren Partnerschaft mit China interessiert sind und damit durchaus unterschiedliche Interessen haben. Hierzu sagte Merkel: „Wir teilen Interessen, etwa in der Zusammenarbeit beim Klimaschutz. Wir verhandeln seit Langem ein Investitionsabkommen, kommen aber nicht richtig von der Stelle. Wir sollten uns über unsere Entwicklungspolitik in Afrika austauschen, wo China zum Teil andere Wege geht“. Weitere Punkte umfassen unter anderem die Aufwertung der EU-ASEAN-Beziehungen zu einer Strategischen Partnerschaft sowie die Weiterentwicklung der GSVP in Zusammenarbeit mit dem Hohen Vertreter.

Neben den politischen Herausforderungen muss sich die deutsche Ratspräsidentschaft aber auch mit organisatorischen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Aktuell können aufgrund der Corona-Kontaktrestriktionen nur etwa 10% der üblichen Meetings im Rat und den untergeordneten Einheiten stattfinden. Die Hoffnung ist, dass man im Verlauf des Jahres diese Zahl zumindest verdreifachen kann. Weitere Kapazitäten können insbesondere durch Videokonferenzen geschaffen werden. Doch kann die Digital Diplomacy bekanntlich (noch) nicht alle Feinheiten der persönlichen Begegnung ersetzen. Die wichtigen Einzel- und Kleingruppengespräche, die Kompromisse in verfahrenen Situationen erst realisierbar machen können nicht ohne weiteres digitalisiert werden. Die Rolle der Ratspräsidentschaft ist dabei insbesondere die persönliche Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Positionen oder auch der direkte Kontakt zu einzelnen Mitgliedern, der über den Bildschirm sehr viel schwerer herzustellen ist. Noch nicht abgedeckt ist dabei die Kommunikation mit der Kommission und dem Europäischen Parlament, die z.B. in Form des Trilogs entscheidend für erfolgreiche Legislativvorhaben ist.

Insgesamt muss sich die deutsche Ratspräsidentschaft daran messen lassen, welchen Beitrag sie zur Auflösung der drei Krisenherde Aufbaufonds, MFR und Brexit liefern kann. Schnelle Erfolge in den Aspekten zum Aufbaufonds und dem Mehrjährigen Finanzrahmen sowie substantielle Fortschritte beim Handelsabkommen müssen das Mindestziel der Bundesregierung sein, um ein Scheitern der Ratspräsidentschaft zu verhindern. Um ein erfolgreiches Halbjahr gestalten zu können, muss zumindest ein Teil der formulierten Zukunftsvisionen umgesetzt und nicht nur angedacht werden.

Deutschland hat die Chance, verspielten Kredit wiedergutzumachen

Die Erwartungen jedenfalls, die an die deutsche Ratspräsidentschaft herangetragen werden, sind also immens und die Bundesregierung will sie gerne erfüllen. Doch es wäre zu kurz gedacht, ginge man davon aus, dass die Übernahme des Ratsvorsitzes durch Deutschland nur eine Chance für die Europäische Union sei. Auch Deutschland selbst hat damit die Möglichkeit, wieder eine aktive Führungsrolle zu übernehmen und sich aus einer (zumindest wahrgenommenen) Abseitsposition herauszubewegen. Es liegen Jahre des Zauderns und Zögerns hinter Berlin, in denen Zukunftsdebatten der EU nur sehr zaghaft angegangen wurden. Der geplanten europäischen Aufbruchsstimmung, ausgelöst durch die Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, zeigte die Kanzlerin zunächst die kalte Schulter, bevor sich die beiden Regierungen im Juni 2018 in Meseberg doch noch zu einem gemeinsamen Programm für die Zukunft durchringen konnte. Die von der Europäischen Kommission lancierte Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union könnte ein weiterer entscheidender Impuls in die Erneuerung der EU sein. Doch auch hier hat die COVID-19-Pandemie ihre Spuren hinterlassen. Die Auftaktveranstaltung zum Europatag am 9. Mai 2020 musste abgesagt werden und die deutsche Ratspräsidentschaft hat in dieser Hinsicht bisher leider keine weitere Initiative ergriffen.

Jetzt hat die Bundesregierung eine weitere Chance, selbst tätig zu werden – dieses Mal als maßgeblich gestaltende Akteurin in enger Abstimmung mit der Europäischen Kommission und insbesondere ihrer in Berlin bestens bekannten Präsidentin Ursula von der Leyen. Dabei hat die Kanzlerin nicht zuletzt während des ersten persönlichen Treffens mit Macron seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie klargestellt, dass die deutsche Ratspräsidentschaft maßgeblich auf dem deutsch-französischen Tandem aufbauen wird. Eine weitere Chance bietet sich Deutschland in der Hinsicht, dass es die zumindest teilweise perzipierte Loslösung Deutschlands von seinen europäischen Partnerinnen und Partnern vor allem im Süden Europas seit der Eurokrise aufheben kann. Auch hier spielt der größere Bewegungsspielraum, den sich Deutschland durch die Hinwendung zu gemeinschaftlichen Schulden gestattet hat, eine entscheidende Rolle. Dazu haben „Merkel und Finanzminister Olaf Scholz […] mehrfach betont, dass alte Verhandlungspositionen der Bundesregierung […] überholt seien. Deutschland werde wesentlich mehr in die EU-Kasse zahlen müssen, um besonders von der Pandemie betroffenen EU-Staaten wie Italien zu helfen“. Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Kontrapunkt, gerade im Vergleich zum Beginn der COVID-19-Pandemie, als die EU-Staaten nur sehr wenig gegenseitige Hilfe geleistet und sich vor allem um sich selbst gekümmert haben.

Die Kehrtwende Merkels wurde von einigen Beobachterinnen und Beobachtern als Zeitenwende wahrgenommen. So schrieb Matthew Karnitschnig, dass Deutschland scheinbar nicht mehr der reluctant hegemon der Vergangenheit sei und schloss seinen Artikel mit der Bemerkung, dass die Kanzlerin, so sie es während der deutschen Ratspräsidentschaft schafft, zu zeigen, dass Deutschland die EU führen kann, ohne sie zu dominieren, nach 15 Jahren endlich ihr eigenes Vermächtnis schaffen könne. Paul Taylor ging sogar noch einen Schritt weiter: „In the twilight of her chancellorship, Angela Merkel has secured her place in the pantheon of European statesmanship“, um später nachzulegen, dass „she has earned her place in the lineage of postwar leaders from Konrad Adenauer to Willy Brandt, Helmut Schmidt and Helmut Kohl, who understood that securing a vibrant, stable Europe based on a social market economy is Germany’s supreme national interest“. Auch Heribert Prantl reiht sich in diese Phalanx ein. Dass Merkel seit 2006 vom Forbes Magazin 13 Mal zur mächtigsten Frau der Welt ernannt wurde ist bereits bekannt. Nun hat Prantl sie sogar zur mächtigsten europäischen Frau seit Kaiserin Maria Theresia von Österreich gekürt.

Angela Merkels Vermächtnis?

Dies ist sicher auch Ausdruck einer gewissen Überraschung hinsichtlich der Führungsstärke der deutschen Kanzlerin. Merkel, die sich nach ihrer Absage an eine weitere Amtszeit und nach der Abgabe des CDU-Vorsitzes bereits mehr und mehr zurückzog, ist durch die COVID-19-Pandemie als Krisenmanagerin wieder in den Fokus europäischer Politik gerückt. Die deutsche Ratspräsidentschaft 2020 wird voraussichtlich ihre vorerst letzte Möglichkeit sein, die Geschicke der Europäischen Union zu prägen und ein positiveres Bild von sich und den von ihr geführten Bundesregierungen – das vor allem wegen des Beharrens auf der Austeritätspolitik seit der Eurokrise in den südlichen Mitgliedstaaten stark gelitten hat – zu zeichnen. Diese zweite Ratspräsidentschaft unter ihrer Führung wird also ihre letzten Schritte auf der europäischen Bühne begleiten, während die erste vor 13 Jahren den Beginn ihrer Kanzlerschaft prägte. Sie ist damit diejenige Staats- oder Regierungschefin mit der größten Zeitspanne zwischen ihren Ratspräsidentschaften. Selbst der „ewige Kanzler“ Helmut Kohl brachte es nur auf elf Jahre.

Dass die Bundeskanzlerin tatsächlich daran interessiert ist, einen positiven bleibenden Eindruck hinsichtlich der Europäischen Union zu hinterlassen, kann niemanden überraschen. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie das Thema Europa seit einiger Zeit fast emotional angeht, was auch ihre aktuelle Regierungserklärung deutlich macht. Darin legt sie nicht nur die wichtigsten Punkte für die deutsche Ratspräsidentschaft dar, sondern hält auch ein Plädoyer für ein starkes, gemeinschaftliches Europa: „Vielleicht leidet Europa auch daran, dass wir, die wir Europa wollen, zu selten sagen, worauf wir stolz sein können. Vielleicht leidet Europa auch daran, dass wir es zu lange als selbstverständlich wahrgenommen haben, dass wir es zu sehr den Gegnern überlassen haben, über Europa zu sprechen, anstatt dass wir, die wir von Europa überzeugt sind, es zum Kern der politischen Diskussion machen“.

Ihre Erklärung begann sie mit einem Satz, der die deutsche Europapolitik und die Vermittlung von der Europäischen Union in Zukunft sehr viel stärker leiten sollte: „Europa braucht uns, so wie wir Europa brauchen: nicht nur als historisches Erbe, das wir geschenkt bekommen haben, sondern als ein Projekt, das uns in die Zukunft führt“. Jetzt liegt es an ihr, die deutsche Ratspräsidentschaft als Ausdruck dieses Plädoyers zu nutzen. Nicht alleine, als dominierende Macht der Europäischen Union, sondern gemeinsam, um Europa wieder stark zu machen.