"Die EU ist kein Kompetenzstaubsauger"

Interview mit der Politologin Dr. Carolin Rüger zu den EU-Wahlen

Dr. Carolin Rüger1. Frau Dr. Rüger, Sie sind Politologin und ausgewiesene Expertin für die Europäische Union – welche Gedanken gehen Ihnen persönlich mit Blick auf die Wahlen im Mai durch den Kopf?

Dr. Rüger: In erster Linie Spannung – und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen bin ich natürlich gespannt auf das Ergebnis der Wahl. Werden Nationalisten und Populisten es fertigbringen, ihre aktuelle Stimmungsmache in hohe Stimmgewinne umzusetzen und somit die pro-europäische Mehrheit im Europäischen Parlament ins Wanken zu bringen? Gerade nach der Polykrise, also dem vielschichtigen Geflecht aus mehreren Krisen, die die Europäische Union in den letzten Jahren belastet haben, ist die Europawahl 2019 eine Schicksals- und Richtungswahl.

Die europaskeptischen und -feindlichen Stimmen sehe ich im Übrigen auch als Chance, denn die Debatte, warum wir die EU brauchen, war überfällig. Wohin soll die Reise auf unserem Kontinent gehen? In die nationale Kleinstaaterei oder hin zu einem geeinten und gestärkten Europa, das den Herausforderungen des 21. Jahrhundert gemeinsam die Stirn bieten kann? Problematisch ist nicht, dass die Europaskeptiker und -feinde in der Mehrheit sind. Das sind sie nicht. Umfragen belegen das immer wieder. Aber sie sind laut. Lauter als die Befürworter und Befürworterinnen und auch lauter als alle, die der EU mehr oder weniger gleichgültig gegenüberstehen. Und hier brauchen wir in den kommenden Monaten und auch darüber hinaus mehr Lautstärke derer, die die EU-Mitgliedschaft im Großen und Ganzen für eine gute Sache halten.
Das Wahlergebnis hängt nicht zuletzt auch von der Wahlbeteiligung ab, denn erfahrungsgemäß relativiert eine hohe Wahlbeteiligung extreme Stimmen aus dem rechten und linken Lager. Ist den wahlberechtigten Unionsbürgern und -bürgerinnen inzwischen bewusst, dass das Europäische Parlament bei weitem keine „Quasselbude“ mehr ist, sondern ein ernstzunehmender und starker Player im Machtgefüge der EU?

Spannend ist auch die Frage, ob das Spitzenkandidaten-Verfahren, das indirekt im Vertrag von Lissabon angelegt ist und bei der letzten Wahl 2014 zum Einsatz kam, wieder zur Anwendung kommen wird. Das würde bedeuten, dass der Spitzenkandidat bzw. die Spitzenkandidatin aus der europäischen Parteienfamilie, die aus den Wahlen als Gewinnerin hervorgeht, Kommissionspräsident bzw. -präsidentin wird. Es ist zu hoffen, dass die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat diesem demokratischen System weiter folgen und damit der Hinterzimmerdiplomatie erneut eine deutliche Absage erteilen.

2. Johannes Ullrich, Präsident der Handwerkskammer Freiburg und Vorsitzender des Europa-Ausschusses des Baden-Württembergischen Handwerkstags (BWHT), setzt für die Wahlen auf einen „Brexit-Effekt“: Vieles sei für die Menschen selbstverständlich und in Großbritannien könne man gerade sehen, dass man vieles erst zu schätzen lernt, wenn man es zu verlieren droht. Teilen Sie diese Hoffnung?

Dr. Rüger: Ich teile die Ansicht, dass es einen Brexit-Effekt gibt. Dieser lässt sich in Umfragen deutlich ablesen. Die letzten Eurobarometer-Umfragen, die auf das Brexit-Referendum folgten, zeigen beispielsweise Rekordwerte der EU-Befürwortung. Mehr als zwei Drittel der Befragten sind der Ansicht, dass das eigene Land von der Mitgliedschaft in der EU profitiert. Ein Wert, wie es ihn seit Beginn der 1980er Jahre nicht mehr gab. In allen Mitgliedstaaten, Großbritannien übrigens eingeschlossen, spricht sich inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung für die Mitgliedschaft in der EU aus.

Befördert wird diese wachsende Zustimmung nicht nur durch den Brexit-Effekt, sondern auch durch die nicht gerade günstige internationale Großwetterlage. „The world is a mess.“ So hat es die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright treffend ausgedrückt – und das war noch, bevor Donald Trump US-Präsident wurde. Außenminister Maas sagt völlig zurecht, dass die Antwort auf „America first“ nur „Europe united“ sein kann. Klimawandel, innere und äußere Sicherheit, Handelsfragen, Migration, Digitalisierung – das alles sind grenzüberschreitende Themen, die man sinnvoll nur gemeinsam auf europäischer Ebene angehen kann und für die es keine nationalen Lösungen gibt. Die Nationalisten und Populisten surfen auf einer Welle von Missstimmungen, die sich speist aus Angst vor Fremdem, dem Gefühl, ökonomisch abgehängt zu sein oder auch einer generellen „wir, das Volk, gegen die Eliten“-Attitüde. Effektive und nachhaltige Lösungen haben sie keine anzubieten.

Wer über den nationalen Gartenzaun hinausblickt, erkennt sehr schnell, dass in einer Welt, die von autoritären oder mindestens unberechenbaren globalen Akteuren wie den USA unter Trump, China unter Xi, Russland unter Putin oder Brasilien unter Bolsonaro geprägt ist, Europa nur zusammen stark sein kann. Nationale Souveränität ist für europäische Staaten in unseren Zeiten ein Trugschluss. Denn heute, wo der europäische Anteil an der Weltbevölkerung immer mehr zurückgeht, gilt mehr denn je, was einer der Gründerväter der europäischen Integration, der Belgier Paul-Henri Spaak schon vor langer Zeit, gesagt hat: „Es gibt in Europa zwei Sorten von Staaten: kleine Staaten - und Staaten, die noch nicht realisiert haben, dass sie klein sind.“

3. Kürzlich wurde von Merkel und Macron die deutsch-französische Freundschaft mit dem Aachener Vertrag vertieft. Die Vertragsinhalte klingen vielversprechend, doch gibt es große Zweifel an deren Umsetzung. Im südbadischen Handwerk ist die Frustration über Hürden und Bürokratie hoch und wohl auch jenseits des Rheins, bei unseren elsässischen Kollegen, herrscht alles andere als Hochstimmung. Wie schätzen Sie die Tragweite eines solchen Vertrags ein? Kann man auf Verbesserungen hoffen, die in den Grenzregionen auch zeitnah spürbar werden?

Dr. Rüger: Der Vertrag von Aachen oder Elysée-Vertrag 2.0, wie er in Anlehnung an seinen Vorgänger den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963, gerne genannt wird, verspricht vieles. International wurden vor allem Macrons und Merkels Vorschläge aus dem Vertragskapitel Frieden, Sicherheit und Entwicklung wahrgenommen. Sie zielen auf eine gestärkte außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU. Der Vertrag enthält aber auch Kapitel zur Mobilität, zur regionalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zu wirtschaftlichen Angelegenheiten. So ist etwa ein Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit geplant, Hindernisse bei grenzüberschreitenden Vorhaben in verschiedenen Bereichen, darunter der Wirtschaft, sollen abgebaut werden, Ausnahmeregelungen zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Lebens und Arbeitens sind vorgesehen. Das kann für Menschen in den Grenzregionen definitiv Erleichterungen bringen.

Ich habe aber auch gewisse Zweifel bezüglich der Umsetzung. Der Vertrag ist wenig konkret, teils wolkig, geht beispielsweise nicht explizit auf die Dienstleistungsfreiheit ein. Das war allerdings auch nicht anders zu erwarten, denn es ist ein Freundschaftsvertrag. Der letzte seiner Art hatte bekanntlich 56 Jahre Gültigkeit. Der eigentliche Mehrwert des Vertrags wird sich tatsächlich erst in der Zukunft zeigen. Hier müssen die großen Pläne der deutsch-französischen Wirtschaftszone in kleine Fortschritte umgesetzt werden, damit der Geist von Aachen gelebt wird und nicht einfach verpufft. Der politische und ebenso der gesellschaftliche Wille ist entscheidend, um die Möglichkeiten zur engeren Zusammenarbeit und zur Beseitigung von Hürden in den Grenzregionen zu nutzen und unnötige nationale Regulierungen beispielsweise bei der Dienstleistungsfreiheit abzuschaffen.  

4. Ein zentrales und sehr wichtiges Zukunftsthema im Handwerk ist der Fachkräftebedarf. Fachkräftezuwanderung aus Drittstaaten wird in diesem Zusammenhang häufig behandelt, entsprechende Zuwanderung aus EU-Staaten wesentlich seltener. Gibt es dafür Gründe? Wie bewerten Sie zum Beispiel den Fachkräftebedarf der deutschen Wirtschaft mit Blick auf die damit verbundene „Flucht“ aus Süd- und Osteuropa und die dortige gesellschaftliche Entwicklung? Könnten da nicht beide Seiten – die betreffenden Länder sowie Deutschland und die deutsche Wirtschaft – von einer sinnvollen Gestaltung durch die europäische Politik profitieren?

Dr. Rüger: Über Fachkräfte aus dem EU-Ausland gibt es sicherlich weniger Debatten, weil diese – auf Basis der europarechtlich festgeschriebenen Arbeitnehmerfreizügigkeit – ohnehin beschäftigt werden können. Nicht umsonst stammen – nach dem hohen Anteil geflüchteter Menschen 2015/16 – aktuell wieder zwei Drittel der Zuwanderer in Deutschland aus EU-Mitgliedstaaten. Nach diversen Übergangsfristen in Folge der letzten EU-Erweiterungen gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU seit 2015 für alle Unionsbürger und -bürgerinnen aus allen EU-Staaten. Es gibt auch hier nach wie vor Hürden, z. B. bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen, aber deutlich weniger als bei Fachkräften aus Drittstaaten. Ob das vom deutschen Kabinett im Dezember 2018 beschlossene Einwanderungsgesetz für Menschen aus Nicht-EU-Staaten die Engpässe bei den Fachkräften und Hochqualifizierten vor allem auch in den kleinen und mittelständischen Unternehmen tatsächlich lindern kann, ist aktuell noch nicht seriös abzuschätzen.

Ohne Zweifel bietet die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Rahmen der EU viele Chancen, aber auch Herausforderungen. Der Gesundheits- und Pflegesektor zeigt die Gefahren sehr deutlich. Während beispielsweise polnische, rumänische, bulgarische oder griechische Ärzte und Ärztinnen, Pfleger und Pflegerinnen sich hierzulande um alte Menschen kümmern oder Patienten und Patientinnen gesund pflegen, krankt in den Herkunftsländern wegen der Abwanderung der Fachkräfte das eigene Gesundheitssystem. Die Herausforderungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit bestehen jedoch nicht nur in diesem Brain Drain bzw. Care Drain, sondern auch in gesellschaftlichen Problemen. Angesprochen sind hier nicht zuletzt die Familien der oft allein migrierten Fachkräfte. So ist schon von Euro-Waisen die Rede, Kinder, deren Eltern aufgrund besserer Arbeitsbedingungen in einem anderen EU-Staat die Heimat verlassen haben.

Trotz der geschilderten Risiken überwiegen die Vorteile der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb des EU-Binnenmarktes. Zahlreiche Programme und Stellen wie etwa EURES oder SOLVIT fördern und unterstützen die Arbeitsmigration von Fachkräften innerhalb der EU. Leider sind diese Dienste immer noch viel zu unbekannt. Wichtig ist, dass die Arbeitsmigration der Fachkräfte verantwortungsvoll, nachhaltig und nicht zu Lasten der europäischen Peripherie vonstattengeht.

5. Zuletzt noch eine Frage zu einem der komplexeren Begriffe im Themenbereich EU: das Subsidiaritätsprinzip. Oft wird der EU lapidar vorgeworfen alles bestimmen zu wollen, alles zu vereinheitlichen. Die gefühlte Wahrheit und tatsächliche Einhaltung des Prinzips liegen dabei weit auseinander. Wie ist das zu erklären? Wie könnte der Ruf der EU in diesem Punkt Ihrer Meinung nach verbessert werden?

Dr. Rüger: Ruf trifft es sehr gut. Es handelt sich tatsächlich eher um einen falschen „Ruf“ als um die Realität. Die EU ist kein Kompetenzstaubsauger. Sie hat eben nicht die berühmte Kompetenz-Kompetenz, also die Zuständigkeit, neue Entscheidungsfelder an sich zu reißen. Die Mitgliedstaaten sind und bleiben die Herren der Verträge. Seit dem aktuell gültigen Vertrag von Lissabon gibt es sogar ein verschärftes Subsidiaritätskontrollsystem. Die EU soll tatsächlich nur dann tätig werden, wenn bestimmte Ziele von der lokalen, regionalen oder nationalen Ebene nicht ausreichend erreicht werden können und wenn sie von der EU besser erreicht werden können.

Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass vieles in der EU zu bürokratisch und überreguliert ist. Was dabei meist vergessen wird: Bürokratie entsteht oft erst dadurch, dass EU-Recht durch Umsetzung in nationales Recht nochmals verkompliziert wird. Der Schwarze Peter muss hier nicht in erster Linie nach Brüssel, sondern an die nationalen Gesetzgeber gehen. Gerade die Juncker-Kommission hat hinsichtlich neuer Gesetzesinitiativen eher einen zurückhaltenden Kurs gefahren. Generell sind alle gut damit beraten, den alten Grundsatz zu verfolgen, dass Europa groß in den großen Dingen und klein in den kleinen Dingen sein sollte.

Wer sich für das Thema näher interessiert, dem empfehle ich einen Blick in die Arbeit der Task-Force, die vor wenigen Monaten ihren Prüfbericht zur Subsidiarität in der EU vorgelegt hat. Dieser Bericht enthält sinnvolle Vorschläge, wie die EU weniger, das aber effizienter tun kann. Der Bericht nimmt dabei nicht nur Brüssel, sondern alle Ebenen, also auch lokale, regionale und nationale Entscheider und Gestalter in die Pflicht bei der Umsetzung der so genannten „aktiven Subsidiarität“. Mehr Eigenverantwortung bei der Anwendung von EU-Recht ist gefragt. Im Handwerk weiß man: Ein Haus wird am besten von unten gebaut. Und das gilt auch und besonders für das Haus Europa.

Dr. Carolin Rüger ist Projektkoordinatorin von mainEUropa am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europaforschung der Universität Würzburg und Mitglied im Team Europe der Europäischen Kommission.


Foto: © Daniel Biscan